Sein Motiv, dem Grauen Bedeutung abzugewinnen, beschreibt H. G. Adler (1910–1988) in dem Essay »Nach der Befreiung« im Dezember 1945, sechs Monate nach seiner eigenen Befreiung aus dem KZ Langenstein. Adlers Studien über die Entstehung, Struktur, das Alltagsleben und die Auflösung der »Lagerwelt« arbeiten mit historiographischen, soziologischen und psychologischen Methoden. Als »teilnehmender Beobachter« gelangt er so zu einer der umfassendsten Darstellungen der »ordentlichen Regelung des Außerordentlichen«, des Zusammenhangs von Verwaltung und Gewalt. Adler interpretierte diesen Zusammenhang als »extreme Alternative von beinahe unbegrenzter Willkür und völliger Ohnmacht, welche das SS-System der Konzentrationslager charakterisierte.«
Während im ersten Teil des Bandes Protagonisten des Nationalsozialismus (Adolf Hitler, Adolf Eichmann u. a.) sowie Praktiken der (Selbst-)Verwaltung in den Konzentrationslagern im Mittelpunkt stehen, entwerfen die soziologischen Studien der 1960er Jahre im zweiten Teil eine Theorie der Verfolgung in ihrem Zusammenspiel mit dem bürokratischen Apparat. Adlers Überlegungen zum Missbrauch der Verwaltung sind dabei grundsätzlicher Natur und auch für die Gegenwart einschlägig. Doch nicht allein in ihrer erstaunlichen Aktualität liegt der Wert dieser nachgelassenen, bisher unveröffentlichten sowie verstreut publizierten Essays und Vorträge. Die Texte führen ebenso prägnant die wichtigsten Überlegungen aus Adlers umfangreichen, teilweise vergriffenen Standardwerken Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft (1955) und Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland (1974) vor Augen. So ermöglichen Nach der Befreiung sowie der im Herbst 2014 erscheinende Band Die Orthodoxie des Herzens einen neuen Einblick in Adlers Denkwelten.