»Emergenz« - das Entstehen neuer Strukturen und Eigenschaften, die sich nicht auf die gegebenen Komponenten eines Systems zurückführen lassen - ist der Schlüsselbegriff eines Theorieprogramms, das Wolfgang Iser mehr als ein Jahrzehnt lang verfolgte. Er verknüpft auch seinen letzten großen kulturtheoretischen Entwurf mit der besonderen Eigenschaft von Literatur und Kunst, etwas hervor- und in die Welt zu bringen, das es so zuvor nicht gab. Die notwendige Unbestimmtheit des literarischen Textes korrespondiert dabei mit der biologischen Unterbestimmtheit des Menschen. Um diese »Leerstelle« als Spezifikum des Menschlichen und ihre spekulativen Besetzungen kreisen Isers durch Literatur und Anthropologie inspirierte Beobachtungen der Kultur als emergentes Phänomen.
Isers Versuche, die je spezifischen, lokalen Eigenheiten unterschiedlicher Modalitäten des Hervorbringens und Entstehens zu beobachten, halten Abstand zu den großen Meistererzählungen. Sie nehmen das allgegenwärtige Interesse an Kultur ernst und machen zugleich verständlich, warum sie sich definitiven Bestimmungen entzieht. Kultur wird zum Spiegel derer, die sie hervorbringen, zur »Lesbarkeit des Menschen«. Modalitäten des Entstehens in Literatur und Kunst erscheinen dabei nicht nur als Alternativen zu geschichtsphilosophischen Spekulationen über Ursprung und Schöpfung, sondern als Inbegriff und Laboratorium menschlicher Möglichkeitsräume. In seinem letzten Essay überschreitet Iser schließlich diese anthropologische Perspektive mit Blick auf die universale Dimension von Emergenz.